Einblick in ein Leben

Ein Garten, der einmal war. Nur noch eine Wiese auf magerem Sandboden. Spitzwegerich, dürres Gras. Dort, wo vor Jahren der Weg entlangführte, eine leichte Senke. Geradeaus das Blumenbeet: Cosmea, Rittersporn, mehrjährige Winden. Graslilien säumen den Rand. Im Sommer Dahlien, hoch und reich blühend. Rote mit weißen Spitzen, fleischige Blüten, zartere in gelb und orange.
In der Mitte, zwischen Kartoffeln und Bohnen, stand der Sprenger. Ein angespitzter Besenstiel mit einer Halterung, in die der lange Schlauch so gesteckt wurde, dass das Wasser in einem Schirm auf die umliegenden Beete rieselte. Auf dem staubigen, warmen Boden spritzte das Wasser hoch. Die Tropfen zogen den Sand mit ihrer Feuchtigkeit zusammen – kleine, feste, feuchte Krater, die ich zusammenhängend vom trockenen Untergrund abheben konnte.
„Das reicht noch lange nicht“, sagte mein Großvater immer, wenn ich nach einer Stunde dachte, man könnte den Hahn zudrehen. Die Nässe lief nur so durch den Sand; mühsam war es jedes Jahr, einen guten Humus zu erzeugen. Pferdemist, Senf, Lupinen, Blaukorn – und natürlich der regelmäßige Wechsel. Nur die Erdbeeren blieben zwei Jahre auf einem Platz.
In den Möhren kleine rote Ameisen, die ich nur in diesem Boden je gesehen habe. Im Herbst Kartoffeln. Im Winter Grünkohl. Im Sommer Sitzen im alten Waschhaus: kühle geweißte Steine, die Zinkwanne voll mit Wasser. Mein Großvater mit der Zigarre, mein Großvater mit einem Bier, mein Großvater mit einer Kanne kalten Kaffees, den er aus der Tülle trinkt. Jerry Cotton. Reader’s Digest. Rothändle ohne. Geschichten vom Krieg, die ich aus ihm herausfrage, die er zögernd erzählt, während ich auf der Mauer neben ihm balanciere. Nie verherrlichend. Das, womit er herausrückt, ist von kalter, aber immer vorsichtiger Klarheit. Der Geruch von verbranntem Menschenfleisch. Der Freund hinter ihm, der plötzlich schwieg, weil ihm der Kopf weggeschossen worden war. Mein Großvater hat mich Krieg hassen gelehrt. Ich weiß nicht, ob er es wollte – manchmal schaute er mich erstaunt an und fragte: „Aber warum willst du das alles wissen?“
Heute lehne ich an der Mauer und warte auf einen anderen Tod. Die weiße Wand, auf der im Hochsommer Admiral und Tagpfauenauge sitzen, ist noch winterkalt.

Ich sitze im dunklen Zimmer an einem Bett. Ich blicke auf einen offenen Mund, beobachte das Pochen einer Halsschlagader, höre auf einen regelmäßigen aber rasselnden Atem. Die alte Frau, die vor mir liegt, wäre wütend und würde toben, wenn sie nicht ein Medikament dagegen bekommen hätte. Ich fühle genau, dass es meine Oma ist, aber ich muss mich abgrenzen und versuche sie wissenschaftlich zu betrachten. Milliliter Flüssigkeitszufuhr am Tag. Dekubitus. Ist die Haut auf den Händen schon marmoriert? Schläft sie oder ist sie in einem zeitlosen Tagtraum gefangen?
Manchmal bittet meine Oma um Wasser, verschluckt sich daran und ich versuche, mich an diesen quälenden Husten zu gewöhnen, der sie nicht zu stören scheint. Danach Stille, Rasseln. Eine Hand, die sich auf meine Tastatur schiebt. Solange sie nach meiner Hand greift, kann ich nicht fortgehen. Dann tippe ich mit fünf Fingern, statt mit zehn. Doch sie schiebt meine Hand auch weg, schaut mich erstaunt an. Wir müssten doch essen, meint sie. Nicht sie selbst. Sie mag nicht mehr.

Jedesmal, wenn ich zu meiner Oma komme, gehe ich zuerst zu dem Garten, der schon so lange nicht mehr ist. Jedes Frühjahr schoben sich dort, wo einmal ein Beet war, neben den Spitzwegerichrosetten trotzig die Blätter der Pfingstrose aus dem Boden. Ich hatte mir immer vorgenommen, sie auszugraben und in meinen Garten zu pflanzen, als Erinnerung. Doch dieses Jahr sind sie nicht mehr gekommen.

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Ein Tag später. Sie hat es geschafft.

Danke, Oma.

22. März 2009 von Britta Freith
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1 Kommentar

  1. Vielen Dank für die Kommentare. Ich habe sie aufbewahrt, möchte aber die Eintragsmöglichkeit für diesen Artikel schließen.