Rotkehlchens Berufsrisiko

Rotkehlchen - aber ein anderes.

Ich höre es nie kommen. Meistens bemerke ich es erst, wenn es neben mir sitzt und singt. Es ist, als käme ein Freund vorbei. Dabei weiß ich ganz genau, dass wir nie Freunde sein werden – nicht einmal gute Kumpel.

Oft sitzt es auf dem Gartenzaun, manchmal auch auf einem Holzstapel kaum einen Meter neben mir. Wenn ich es angucke, nimmt es den Kopf ein wenig zurück, taxiert mich kurz und beginnt ein neues Lied.

Sobald ich ein Stück weggehe, fliegt es zur frisch aufgeworfenen Erde, in der ich gerade gegraben habe, und sucht. Mit der Zeit wird es mutiger und kommt sogar angehüpft, während ich buddele. Es singt jetzt nicht, sondern sieht mich die ganze Zeit über an, während es Kleinigkeiten aus der Erde pickt. Ich bin ganz still und überlege, was es wohl denkt.

Ob es wohl denkt? Ich bin ja viel größer, könnte es mit einem Haps verschlingen. Vorausgesetzt, ich wäre schnell genug. Ob es wohl weiß, dass ich viel schwerfälliger bin? Ich würde es niemals erwischen, es wäre sofort weg. Es ist ja keine Deckung zwischen uns beiden, es sieht jede meiner Bewegungen. Vielleicht meint es auch, ich sei auf Krabbeltiere aus, so wie es selbst – warum sonst sollte ich, wie ein Vogel nach dem Regen, in der Erde wühlen?

Falls es mich für einen Vogel hält, bin ich zumindest ein seltener: Ich bin nämlich ein Vogel, der teilt. Das kleine Rotkehlchen neben mir mag besonders gerne winzige Füßler, also Krabbeltierchen mit vielen Beinen. Engerlinge nimmt es auch und Käfer, doch Regenwürmer sind ihm zu groß. Als ich ihm das erste Mal etwas zuwarf, flog es hoch, aber nicht weit weg. Es hatte sofort begriffen, dass es offenbar in einer Art Fly-In gelandet war, einem Schnellrestaurant für Vögel.

Seit Tagen überlege ich, ob ich von diesem Rotkehlchen etwas über Risikobereitschaft lernen kann. Ob sich sein Verhalten auf meinen Beruf übertragen lässt, gar eine erfolgreiche Unternehmensstrategie ist. Dieser zarte Vogel verhält sich völlig anders, als alle anderen bei uns im Garten. Den Amseln zum Beispiel kann ich im Winter aus der Ferne Äpfel hinwerfen. Sie fliegen dann weg und es dauert eine Weile, bis sie wiederkommen. Dann prügeln sie sich um einen einzigen Apfel, auch wenn da mehrere liegen. Das Rotkehlchen kommt gezielt zu mir und streitet sich mit niemandem. Es wartet ab, es beobachtet, es nimmt sich in Ruhe, was es braucht. Es scheint anfangs leichtsinnig, handelt aber überlegt. Und ich gebe ihm sogar, was es möchte – ohne dass ich einen anderen Benefit habe als gute Laune.

Engländer nennen Rotkehlchen auch „Gardener’s Friend“. Doch es wird nie ein Freund, man darf sich nichts vormachen. Es hat nur eine eigene Strategie und wirkt auf Menschen sehr liebenswert. Wäre ich ein Wildschwein oder würde als Maulwurf die Erde hochwerfen, wäre es auch da, um sein Futter zu suchen.

Gerade lese ich, dass Rotkehlchen nur eine Lebenserwartung von 1,1 Jahren haben. Haben sie das erste Lebensjahr jedoch überstanden, haben sie große Chance, noch viel älter zu werden. Das spricht dafür, dass ihre Strategie erfolgreich ist.


Update: Das Rotkehlchen ist Vogel des Jahres 2021 geworden. Herzlichen Glückwunsch!

15. Mai 2012 von Britta Freith
Kategorien: Arbeitsalltag, Garten | 10 Kommentare

Kommentare (10)

  1. Vielleicht etwas altmodisch, aber immer noch liebenswert: Alexandra Röhls Büchlein »Duette mit ihm – Über dir Freundschaft mit einem Rotkehlchen«.

  2. Ein sehr inspirierender Post mit einer schönen Botschaft 🙂

    Danke dafür!

  3. OH! Das sind Rotkehlchen? Ich hielt sie bei uns im Garten immer für Domspatzen. *schäm*

    Was mich jetzt aber doch interessieren würde: Was genau würdest du denn für deine Berufsstrategie von ihrem Verhalten ableiten? Dass anders sein erfolgreich macht? Das stimmt sicher – aber auch nicht immer.

    • Mir geht es eher um das gezielte Eingehen eines Risikos, auch wenn das nicht dem Mainstream entspricht. Darum, Mut zu haben, auch wenn es gründlich schief gehen könnte.

      Übrigens heißt es in der englischsprachigen Wikipedia, die Rotkehlchen auf dem Kontinent seien scheuer als die in Großbritannien und Irland – angeblich, weil Rotkehlchen hier früher gefangen und (wie viele Singvögel) gegessen wurden.

  4. Das Risiko ist dem Freiberuflersein ja quasi immanent. 🙂 Deshalb liebe ich das Unternehmertun ja auch so sehr.

  5. PS: Hab gerade noch mal geguckt: Wie, bitte, komme ich eigentlich auf Domspatzen??? Die sehen ja ganz anders aus??

    Ts.

  6. Stunden später: Die heißen ja gar nicht Domspatzen, sondern DomPFAFFEN! Und dann sehen sie Rotkehlchen doch ähnlich … ;-))

    • Die Domspatzen sind auch eher ein Knabenchor, oder? ;))
      Aber Dompfaffen sind doch viel plumper als Rotkehlchen, haben eine schwarze Kappe, dicke Finkenschnäbel und klingen dazu so traurig.

      Dompfaff by Malene/wikimedia

      (Dompfaffenmännchen, Malene Thyssen, Wikimedia)

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