Bis wann ist die Party?

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Bestimmt mache ich mir mit diesem Beitrag nicht nur Freunde. Aber ich mache mir eben Sorgen – wie in den vergangenen Wochen so oft. Im Augenblick gibt es mir viel zu viele Feiern. Alle freuen sich so sehr und möchten dabei sein, bei der großen Flüchtlingssause. – Ups!

Hier ist schon der Punkt erreicht, wo mir dieser Beitrag zu entgleiten droht. Ich möchte keinesfalls falsch verstanden werden. Ich finde es toll, dass Deutsche auf Bahnhöfen stehen und Flüchtlinge willkommen heißen. Schön, dass es Applaus gibt, wenn es jemand bis hierher geschafft hat. Ich freue mich mit jedem mit, weil ich mir vorstelle, aus welcher Hölle diese Menschen kommen. Ich wünsche ihnen jedes Kuscheltier der Welt. Aber.

Das „Aber“ heißt hier: Ich frage mich, liebe Willkommensfeierer, wie lange ihr das aushaltet? Seid ihr auch noch da, wenn der Winter kommt? Wenn der Hashtag #Weihnachtsmarkt und nicht mehr #trainofhope oder #refugeeswelcome heißt? Wie lange macht ihr mit bei diesem Event?
Ups – gemerkt?

Genau, es ist nämlich gar kein Event. Es ist unglaublich sozial, was im Augenblick passiert, und es wäre auch ohne die sozialen Medien nicht möglich. Das ist alles großartig. Nur: Wie lange noch? Ist es lediglich eine weitere Kerbe im Social-Media-Gürtel, wenn man jetzt dabei war? Oder haltet ihr länger durch?

Ich fürchte, dass das nächste große Ding im Zusammenhang mit Flüchtlingen heißt #refugeeXmas. Dann hat jeder „seinen“ Flüchtling unterm Tannenbaum. So, als seien Flüchtlinge ein Musthave, eine Mode. Nur wenige Moden schaffen es aber als Klassiker in die Gallery of Modern Art. Die meisten sind kurzlebig. Die Menschen, die zu uns kommen, sind genau das nicht. Die brauchen Freiwillige, die richtig lange helfen. Nicht nur heute, wenn der Medienrummel groß ist. Nicht nur Weihnachten. Sondern täglich, immer wieder, viele Jahre lang. Und es kommen immer neue.

Gerade erlebe ich ganz viele großartige Helferinnen und Helfer, die Kinderbetreuung organisieren, Deutschunterricht geben, Kleider sortieren. In meinem kleinen Stadtteil sind es bestimmt 300 Aktive. Ach, vermutlich noch mehr. Und so viele Ungezählte, die Kleidung, Stühle, Babynahrung bringen, Fahrräder und Kuscheltiere verteilen und Feste organisieren. Hier eine Feier, da ein Ausflug. Noch mehr Kuscheltiere. Noch mehr Hygienepacks. Ist eigentlich auch die Presse da? Winkewinke!

Viele helfen still. Das sind mir die liebsten. Die ackern nämlich einfach, weil sie es wichtig finden. Die sind da und verschwinden wieder. Zwischendurch haben sie 20 Säcke Kleider ausgeleert und sortiert. Dann gibt es die anderen, die laut sind, Fotos und Hashtags verteilen müssen. Das hat auch seine Berechtigung, denn gute PR brauchen wir, damit sich auch andere ermutigt fühlen. Dennoch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es oft um das Wohl der Helfer geht und nicht um das der Flüchtlinge.

Darum ist dies auch kein Gemecker, sondern ein Appell: Haushaltet mit euren Kräften. Geht die Sache langsam und überlegt an. Schafft dauerhafte Strukturen. Denkt nicht, dass es mit zwei Flaschen Wasser, einem Kuscheltier am Bahnhof und einem Hashtag getan ist. Seid auch in zwei Jahren noch dabei, wenn es wieder heißt: „Hier eröffnet eine ZEA, eine Zentrale Erstaufnahme.“

07. September 2015 von Britta Freith
Kategorien: Ankommen, Stilkritik | 30 Kommentare

Kommentare (30)

  1. Liebe Britta,

    du sprichst mir so sehr aus dem Herzen. Danke, dass du die richtigen Worte für das gefunden hast, was mir irgendwie auch schon länger quer saß.
    Man muss es ja schon fast Euphorie nennen, was man da beobachten kann. Und das kann irgendwann ganz plötzlich in sich zusammenbrechen. Davor habe ich auch Angst. Und dann?
    Es muss tatsächlich geackert werden. So sieht es aus. Und man darf nicht nachlassen. Das ist das Problem. Es wird erst mal ein riesiger Bedarf an Unterstützern da sein. Hoffen wir, dass sich wenigstens durch die tolle Stimmung ganz viele anstecken lassen. Und dann zur nächsten Versammlung eines Flüchtlingsnetzwerkes in ihrer Nähe gehen und fragen, was sie konkret tun können.
    Dann wäre auch die Party gut!

    Herzliche Grüße aus dem Rheinland
    Anke

  2. Liebe Britta, Du sprichst mir so sehr aus der Seele! Ich habe bei mir einen fixfertigen Blogartikel mit demselben Tenor liegen und mich dann doch nicht getraut, ihn zu veröffentlichen, denn: Wer will schon die Spaßbremse sein?
    Aber ich sehe es wie Du: Wir werden alle einen langen Atem brauchen. Auch dann noch, wenn kein glückliches Kinderlächeln mehr für den kuschlig-warmen Helferlohn sorgt. Wenn die Probleme anfangen, die durch enges Zusammenleben vieler Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichem Grad der Traumatisierung ganz sicher kommen werden. Wenn alles steiniger wird. Und die öffentliche Aufmerksamkeit längst woanders hinguckt.
    Ich hoffe sehr, dass genügend Menschen diesen langen Atem haben. Andererseits: Umso besser, wenn viel Anfangsschwung da ist. Vielleicht ist ja dann schon vieles in dauerhafte Bahnen geleitet, bevor der Enthusiasmus verpufft.

  3. Liebe Britta,

    ich beobachte das Treiben bisher nur aus der Ferne und teile Deine Sorge. Gleichzeitig habe ich, ganz leise, den zuständigen Stellen mit geringer monatlicher Stundenzahl meine langfristige Unterstützung angeboten. Und bin nun gespannt, ob und wann das angenommen wird.

  4. Die Frage habe ich mir auch schon oft gestellt. Und deswegen dafür plädiert lieber etwas weniger zu machen, dafür aber länger durchzuhalten, weil die Not nächstes Jahr um die Zeit auch noch groß sein wird.

    Und weil ich jeder auch auf seine eigenen Kräfte schauen muss. Denn wer sich jetzt total verausgabt kann nicht langfristig da sein.

    Schade auch, dass so viele Energien verpuffen weil manchmal einfach nur blindlings losgeholfen wird, ohne vorher zu schauen was an Hilfe schon existiert und wo es wirklich nötig ist.

    Aber total schön und berührend ist zu sehen, wieviele Menschen sich berühren lassen und helfen. Und ich glaube fest, dass das in vielen Köpfen und Herzen verankert ist und bleibt.

  5. Ein wichtiger Einwand Britta. Darüber haben wir die letzten Tage immer wieder gesprochen.
    Natürlich ist es wichtig, jetzt da zu sein und aus der Situation heraus teilt man das eine oder andere Bild/Hashtag, weil gerade etwas gebraucht wird oder weil man sich mitfreut. Völlig normal. Das sollte aber immer der Sache dienen und nicht dem eigenen Fame. Der Eindruck, dass es eher letzteres ist, ist bei mir mehrfach entstanden. Das gefiel mir gar nicht.
    Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Zeit des Einlebens in einer fremden Umgebung sehr lange dauert (und umso schwierig sein wird,da es sprachliche Barrieren gibt) und dass nicht nur ein erstes Willkommen wichtig ist.
    Aus meiner Sicht ist es wie Du sagst: man muss mit den Kräften haushalten und in ein paar Wochen/Monaten das Gefühl vermitteln: Ihr könnt bei uns klingeln – wir helfen Euch weiter. Darauf kommt es an.
    Wenn der Alltag beginnt, werden wir da sein müssen. Ich hoffe, viele halten bis dahin durch!

  6. Sehr gut auf den Punkt gebracht! Ich denke, dass jeder für sich auch herausfinden muss, wie und in welcher Form und welchem Maß sich die Hilfe in den eigenen Alltag integrieren lässt, damit es dann auch von Dauer sein kann.

  7. Liebe Britta!
    Gerade heute Vormittag habe ich sehr ausgiebig mit einer lieben Freundin über dieses Thema diskutiert. Ich kann und konnte es nicht so in Worte fassen. Aber genau das, was du schreibst, ist es. Ich wünsche dir/uns, dass ganz viele Menschen diesen Post lesen – und sich die Worte zu Herzen nehmen und merken.
    LG Melanie

  8. Zur Zeit ist es ein Event. Ich finde das auch nicht schlimm, weil dieser Event einen positiven Effekt hat, er hilft den geflüchteten Menschen. Er hilft auch dabei, dass sich Menschen vernetzen, dass Strukturen entstehen, die längerfristig halten. Recht hast du natürlich damit, dass dieser Event irgendwann zu Ende ist und viele von denen, die heute dabei sind, sich dann anderen Themen zuwenden, aber es wird Menschen geben die bleiben, die darin ihren Lebenszweck entdeckt haben, die gerne helfen, die weiter Unterricht geben. Ich glaube also, dass dieser Event dazu beiträgt, auch langfristige Strukturen zu schaffen.

  9. Ich finde es schön und wichtig, dass Deutschland nach allem „ich, ich, ich“ endlich auch mal einen sozialen Trend entdeckt hat. Ich persönlich hatte ehrlich gesagt schon oft Angst, wo uns diese Ellenbogengesellschaft noch hinführen soll.

    Mag sein, dass die enorme Hilfsbereitschaft nicht lange anhält, aber eine Lehre nehmen (hoffentlich) viele mit: Gutes tun ist nicht nur was für arme Trottel, Außenseiter und Naivlinge, die eh immer von allen ausgenutzt werden, sondern Gutes tun tut gut, macht das Herz lachen und kann sogar ein bisschen „cool“ sein.

  10. Liebe Britta, danke für den Artikel. Ich war, als ich die Videos sah, etwas zwiegespalten. Einerseits war da natürlich die große Erleichterung und Freude, dass dei Menschen endlich in Sicherheit sind. Andererseits war da die Frage: „Wozu der Applaus?“ Was sollten die Menschen wohl feiern? Dass sie ihr Zuhause vielleicht sogar Familienmitglieder verloren haben? Dass sie keine Ahnung haben, wie es weitergehen soll?

    Also, ich kann deine Sorge, dass es ein Event ist, nachvollziehen.

    Andererseits ist es ein Hoffnungsschimmer, dass die Menschen ab jetzt genauer hingucken, wenn es um Diskriminierung und Rassismus geht. Ich denke (besser: hoffe), es ist etwas in Bewegung geraten in dieser Gesellschaft. Letzte Woche kam noch die Meldung, dass Schulabgänger, die einen Migrationshintergrund haben, schlechtere Chancen auf dem Ausbildungsmarkt haben. Ich hoffe sehr, dass die Menschen endlich die Augen aufmachen und diese strukturelle Benachteiligung erkennen und nicht mehr zulassen werden.

    Zu den Strukturen, die aufgebaut werden müssen. Eigentlich ist Deutschland ziemlich gut aufgestellt, wenn es um ehrenamtliche Infrastruktur geht. Es gibt überall Kirchgemeinden, Freiwillige Feuerwehren, DRK, Johanniter, usw. usf. Nur in Bezug auf Flüchtlinge fühlte sich erstmal keiner richtig zuständig, habe ich das Gefühl. Das muss erst anlaufen. Und auch die staatlichen Institutionen sind hier dringend in der Pflicht. Traumabewältigung kann auf keinen Fall Ehrenamtlichen überlassen werden! Sind Erzieher_innen und Lehrer_innen darauf vorbereitet, mit traumatisierten Kindern umzugehen. Hier sind dringend Fortbildungen geboten, denke ich.

    Ich wünsche allen Flüchtlingen, dass die zuständigen Stellen es endlich organisiert bekommen, dass sie in eine Unterkunft kommen, die für den Winter geeignet ist, in der sie sich sicher fühlen können und in der sie vorerst bleiben können, ohne von einer Unterkunft in die nächste, in die übernächste wechseln zu müssen. Ich wünsche ihnen, dass sie zur Ruhe kommen und Zukunftspläne schmieden können.

    LG Katrin

    • Der Applaus war übrigens eine Anerkennung. Für die großartige Leistung und den Willen der Flüchtlinge, wie sie dem „System Orban“ entkommen sind. Insofern auch ein politisches Zeichen nach Ungarn.

  11. Ich fühle mich jetzt komisch ertappt. 😉 Als völliger Hilfe-Newbie in der hinterletzten, von großen Flüchtlingsströmen abgeschnittenen Grenzprovinz habe ich nämlich erst mal mühsam recherchiert, wo und wie ich helfen kann. Und ich habe Schiss, dass ich vielleicht versage, nicht durchhalte etc. pp. Also werde ich mich spontan zu einem Helfertreffen aufmachen … für ein FEST. Deutsche und Flüchtlinge werden zusammen kochen, miteinander essen und feiern und Mensch sein. Schon wieder ein Fest?
    Ich hab mir das ausgesucht, weil so meine Schwellenangst am kleinsten ist. Weil ich zwischen Dolmetschen, Geschirrspülen oder Getränkeausgeben erst mal austesten kann, wofür ich langfristig geeignet wäre. Weil ich so am leichtesten die Kontakte kennenlernen kann, bei denen ich nachher in die Tiefe helfen kann. Und weil ich die Flüchtlinge als Menschen wie du und ich erlebe. Ich glaube auch fest daran, dass es den bereits seit einiger Zeit Angekommenen wohl tut, aus dem Alltag der Unterkünfte heraus etwas Schönes zu erleben. Und das Fest ist als Zeichen gedacht – für eine offene Willkommenskultur statt Rassismus und Ausländerhass.

    Ich finde das nicht schlimm, weil ich weiß, wie viele Menschen diese Hemmschwelle haben, wenn es darum geht, nicht nur Zeug abzugeben, sondern sich als Person längerfristig zu engagieren. Die Helfer finden es nicht schlimm, weil jemand, der mal nur stundenweise oder sporadisch hilft, wertvoller ist als all die Leute, die nichts tun. Der soziale Funke braucht auch ein Feuerchen. Springt so leichter über. Steckt an.

    Viele von denen, die am Bahnhof klatschten, haben vor und nach dem Klatschen hart gearbeitet. Es war ihre Verschnaufpause.
    Und das Festen und Feiern darf durchaus als Triumph verstanden werden: Gegen die Gewalt von Rechts, gegen die Staatsgewalt z.B. von Ungarn.

    Nicht falsch verstehen: Ich finde deinen Beitrag extrem wichtig, vor allem, was die Personalityshows von manchen betrifft. Ich finde ihn als Warnung wichtig, dass Flüchtlinge freie Menschen auf Augenhöhe sind und keine Haustiere.
    Ich finde ihn am allerwichtigsten, um hinzuweisen, dass wir noch Jahre daran arbeiten werden.
    Letzteres ist aber auch eine Chance: neue Jobs werden langfristig entstehen und vielleicht Berufe, die wir uns noch nicht vorstellen können. Und den Hashtag #weihnachten verschieben wir vielleicht besser auf ein #ramadan oder adäquatere Feste? Auch das werden wir irgendwann noch lernen.

    • Liebe Petra, ich finde auch jemanden wichtig, der eine Viertelstunde hilft. Alle sind wichtig. Und ich helfe auch das erste Mal. Bei mir selbst erlebe ich Frust, Unsicherheit, Müdigkeit. Das ist wohl alles normal. Wir müssen einfach drüber reden. Totschweigen hilft ja nicht weiter. Je offener wir sind, desto eher können wir es packen, finde ich. Hoffe ich.

  12. Ein wichtiger Beitrag! Und auch ich habe heute mit einer lieben Freundin genau über das Thema gesprochen. Huhu, Melanie! 😉
    Was ich sehr wichtig finde: Wir dürfen nicht aufhören, darüber zu schreiben und zu sprechen. Ich merke, dass gerade in Gesprächen (offline) sehr viel passiert, wenn man darüber spricht, wie und wo man helfen kann. Das hat nichts mit Fame zu tun, sondern mit Bewusstsein – und auch mit Ängsten, die andere vielleicht haben. Die können im Gespräch viel leichter abgebaut werden. Ganz wichtig finde ich, dass die richtigen Signale gesendet werden. An die Neuankömmlinge, die Gesellschaft und auch an die Politik. Und natürlich spielt auch die Sichtbarkeit des Themas aktuell eine große Rolle! Andere Länder wie England ziehen nach, deshalb ist es so wichtig, dass alle Welt sieht, was hier abgeht. Das darf natürlich nicht der „Party“ und unserer persönlichen Erleichterung dienen. Meine Güte, es geht um Flüchtlinge!! Es geht um IHRE Erleichterung. Dafür sollten wir uns starkmachen und helfen, wo wir können. Dass die „Euphorie des Neuen“ abnehmen wird, davon ist auszugehen. Aber wir legen gerade einen guten Grundstein und zeigen, was alles möglich ist. Ich erlebe ich in letzter Zeit häufiger, dass Hilfsbereitschaft ansteckend ist. Und ich hoffe, dass viele das weitertragen, darüber sprechen und andere für das Thema sensibilisieren. Es betrifft die Gesellschaft. Also uns. 🙂

  13. Liebe Britta,
    ja, das waren auch meine Gedanken. Es war alles ein wenig viel. Ich hatte auch das Gefühl, dass die Menschen nach ihrer langen Reise damit eher völlig überfordert waren.

    Irgendwie erinnert mich diese extreme Euphorie gerade der Bahnhofsbilder auch an 1989 (da war ich ja 19, kann mich also ganz gut erinnern). Damals, auf ekstatisch auf die einrollenden Trabbies draufgehauen wurde. Jeder wollte in meiner doch sehr westlich gelegenen Heimat eine „Patenfamilie“, in der Schule waren alle begeistert. Und dann? Dann wurde vielen klar, dass sich auch „unser“ Land ändert. Ernüchterung, nach der Euphorie kam oft Desinteresse und auch Ablehnung.

    Und genau das befürchte ich jetzt auch. Dass auf eine riesige Begeisterung eine Desillusionierung folgt. Das sich der Alltag ändert, unsere Gesellschaft sich ändern wird und dass das dann doch mit wesentlich weniger Wohlwollen und Freude passieren wird.

    Es wäre schön, wenn meine Befürchtungen nicht wahr werden. Aber ich lese ja gerade hier, das ich damit nicht allein bin …

    Alles Liebe, Silke

  14. Für mich ist die Flüchtlingshilfe in Deutschland kein Event und auch kein Grund zum Feiern. Ich will mich nicht damit profilieren oder unser deutsches Image aufbessern. Die brutale Realität ist aus dem Fernseher zu uns ins Land gekommen und es ist für viele selbstverständlich mit anzupacken anstatt vergrämt in die Zukunft zu sehen. Und das ist gut so. Die Menschen müssen versorgt werden, das ist alles was gerade zählt.

  15. Ein wichtiger Punkt, den du ansprichst, Britta. Es wird tatsächlich so sein, dass diese Form der Euphorie nicht lange halten wird. Das merkt man ja schon daran, dass um die Züge, die heute hier in Dortmund angekommen sind, schon lange nicht mehr so ein Trubel geherrscht hat, wie am Samstag/Sonntag.

    Allerdings sehe ich die Ereignisse an diesem Wochenende aus verschiedenen Gründen trotzdem (fast) uneingeschränkt positiv und vor allem nicht so sehr als reines Social-Media-Phänomen. Vielmehr war es für mich ein hervorragendes Beispiel, wie sich breite Bevölkerungsschichten über Social Media mobilisieren und koordinieren lassen:

    1. Die Flüchtlinge die neben den leider „normalen“ Unbillen der Flucht auch noch diesen Mist in Ungarn erleben mussten, sind in einer Umgebung angekommen, in der sie sich so weit irgend möglich sicher und willkommen fühlen können. Sie werden mit dem Nötigsten versorgt, in entsprechenden Unterkünften untergebracht und können hier in Deutschland Asyl beantragen – eine bemerkenswerte Ausnahme vom eigentlich geltenden EU-Recht.

    2. Das aktute logistische Problem dieser großen Zahl von Flüchtlingen ist in meinen Augen auf bemerkenswerte und unbürokratische Weise gelöst worden. Für alles, was jetzt kommt, können sich stabilere und belastbarere Strukturen entwickeln.

    3. Es wird auf jeden Fall mehr freiwillige Helfer geben als vorher. Klar, es bleiben nicht alle dabei, aber zumindest einige und wer vorher schon dabei war wird deswegen vermutlich nicht aufhören, sondern höchstens eine Erholungspause einlegen.

    4. Die Darstellung der ganzen Situation in der Öffentlichkeit hat sich massiv gewandelt. Vor einer Woche konnte man ob der unsäglichen Übergriffe noch glauben, Deutschland wäre tatsächlich gegen die Aufnahme der Flüchtlinge. Das hat sich nun gewandelt. Das gilt nicht nur für das Bild nach Außen (weniger wichtig), sondern auch für das Selbstbild. Jetzt ist jedem klar, dass wie hier in Deutschland in der absolut überwiegenden Mehrheit bereit sind, einen Beitrag zu leisten.

    • Du schreibst, das Bild nach außen wäre weniger wichtig. Unterschätzt dieses Bild nicht!

      Ich lebe in Frankreich, wo man bisher jämmerlich wenig Syrer aufgenommen hat. Das Land war bis jetzt recht stark mit sich selbst beschäftigt, nach mehreren Anschlägen gibt es weiter aktuelle Bedrohungen aus islamistischen Kreisen. Es herrscht sehr hohe Arbeitslosigkeit (hier in manchen Cantons bei 25%) und wirtschaftlich steht das Land nicht gut da. Die Ängste der Bevölkerung sind noch viel größer, denn das Sozialsystem ist seit langem marode, die Armut steigt erschreckend.

      Und jetzt kam Deutschland und hat es vorgemacht, dass man nicht in jedem Neuankömmling einen potentiellen Feind sehen muss und einfach aus vollem Herzen teilen kann. Und dass das auch dem Land selbst und den Leuten gut tut. Ich glaube nicht, dass Frankreich sich jetzt auf die neue Flüchtlingsquote geeinigt hätte, wenn Deutschland nicht mit diesem Beispiel vorangegangen wäre! So wie Menschen Menschen anstecken können, können auch Staaten andere Staaten anstecken.

      In meinem Freundeskreis blicken jetzt viele bewundernd nach Deutschland und beginnen sich zu fragen, was sie ähnlich aufziehen könnten! Noch müssen wir nämlich hier über die Grenze fahren, um Flüchtlingen helfen zu können, weil es in der Region gar keine gibt.

  16. Hallo,

    das trifft meine Gedankengänge in den letzten Tagen ziemlich gut. Als Berufsvormund betreue ich aktuell 24 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ich betreue jedoch bereits sehr lange deutsche Kinder- und Jugendliche mit teilweise schwere psych. Erkrankungen also hält sich sowieso meine Grundeuphorie in Grenzen, obwohl ich die Arbeit mit Herz und Seele mache. Ich mache mehr als andere Vormünder und habe zu jedem meiner Mündel eine persönliche Beziehung. Die Arbeit mit den Flüchtlingskinder ist eine besondere Herausforderung. Unheimlich süß gucken sie mit ihren braunen Augen, sind unglaublich höflich und charmant und schwören bei Gott, dass sie mich lieben wie ihre Mutter. Diese Seite und das erlebte Leid der Kinder bringt Eisberge zum schmelzen und führt dazu, dass ganz ganz viele Menschen, den armen Kindern- und Jugendlichen helfen wollen. Das ist toll und weckt ganz viele Hoffnungen. Es müssen auch unbedingt Wege gefunden werden, wie man mit den vielen Kindern – und Jugendlichen umgeht, die gerade ankommen und noch ankommen werden. Das wird auch ohne Ehrenamtliche nicht funktionieren. Ich gehöre jedoch zu denen, die immer dazu raten auch drei Nächte darüber zu schlafen, bevor man sich tatsächlich in den Bereich der Vormundschaft begibt. Die andere Seite sieht nämlich aus, dass es Kinder- und Jugendliche mit schwersten Traumatisierungen sind, die während Flashbacks völlig wegtreten, sich selbst verletzen, blockig und zickig sind und sich dann irgendwie undankbar verhalten, wenn sie die gebrauchten Klammotten einfach doof finden. Die sich weigern zum Zahnarzt zu gehen, die Schmerztablette und das Kühlpad zu nehmen, die Stunden im Bett schmollen und dann irgendwie gar nicht mehr höflich sind. Das muss man aushalten, wie mit dem eigenen Kind. Man kann nicht sagen: „Dann nehme ich einen anderen, weil der irgendwie netter wirkt.“ Man muss nach jeder Krise ein neues Kapitel aufschlagen und den Weg gehen bis zum 18. Lebensjahr. Man kann sie nicht ins Regal stellen und schwere Krisen kennen keinen Dienstschluss und treten immer dann auf, wenn man gerade keine Lust hat. Das vergessen viele.

    Aber auch allgemein teile ich die Befürchtung, dass die Freude über die Ankunft der Menschen nicht anhält, denn das was jetzt kommt ist nur der Anfang. Über viele Jahre werden Helfer gebraucht und ich hoffe, dass sie nicht verbraucht sind. Es werden Helfer gebraucht, wenn es eiskalt und nass draussen ist. Ich wünsche es den Menschen die kommen und jedem einzelnen Helfer, dass alle durchhalten. Ich finde es aber auch dafür wichtig, dass die Helfer Anerkennung erhalten. Wir sind alle keine „Mutter Theresa“ und die reine Selbstlosigkeit existiert einfach nicht oder ist wahrscheinlich extrem selten. Dazu gehört auch tolle Projekte und Menschen publik zu machen. Das veröffentlichen der Aktionen dient jedoch nicht nur der Anerkennung sondern auch dem Lernen voneinander, denn man muss das Rad ja nicht ständig neu erfinden. Ein Projekt in Berlin hat vielleicht genau das, was die Hamburger gerade suchen. Gerade in den Zeiten wo am besten gestern schon alles organisiert hat, ist dies unerlässlich. Aus diesem Grund schätze ich die sozialen Medien aktuell mehr als denn je.

    Zur Partystimmung…na ja das ist ja bei uns generell ein bisschen schräg in Deutschland. Ich finde Freude zeigen, dass die Menschen heil und sicher bei uns angekommen sind absolut legitim, aber ich habe auch den Eindruck, dass es manchmal ein bisschen too much und irgendwie verwirrend ist, dennd die Realität auf die die Menschen treffen ist teilweise heftig. Wir versuchen bei den Jungs selbst die Waage zu halten, zwischen Spaß und Vorbereitung auf die Realität, denn die beinhaltet keine Ausflüge in Freizeitparks, keine Markenkleidung und keine elektronischen Geräte, die einfach vom Himmel fallen.

    Und ansonsten ist mein Rat: seid achtsam mit Euch. Entspannt Euch und genießt auch das Leben, dass Ihr habt. Die Hilfe für die geflüchteten Menschen ist eine große Aufgabe vor der wir alle hier stehen, aber wir dürfen uns selbst und unsere eigenen Leben nicht vergessen, denn nur wenn wir uns um selbst kümmern, sind wir auch in der Lage zu geben und zu helfen.

  17. Liebe Britta,

    ich habe mich das gleiche gefragt, bin aber zu einem ganz anderen Schluss gekommen als du.

    Die Euphorie jetzt mit dem Event-Charakter und die später nötige langfristige Hilfe zur tatsächlichen Integration der Neuankömmlinge sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Sie haben einen unterschiedlichen Sinn, brauchen und ziehen unterschiedliche Menschen an, haben unterschiedliche Auswirkungen.

    Das großartige Willkommen hat eine starke Außenwirkung. Soll es auch haben. An die Ankommenden, an die Politiker, an die Fremdenfeinde, an die europäischen Nachbarländer. Dementsprechend kommen vermehrt Menschen, die in Sachen Flüchtlingsunterstützung vielleicht eher „Kurzstreckenläufer“ sind. Sie sind aber an dieser Stelle wichtig, und wir brauchen viele strahlende Gesichter nachts in Bahnhofshallen.

    Die langfristige Hilfe ist vielschichtig. Da sind verschiedenste Fähigkeiten und Fertigkeiten gefragt: Organisationstalent, Sprachkenntnisse, Beziehungsfähigkeit, Beharrlichkeit, Eigenmotivation, Einfühlungsvermögen, juristische Kenntnisse, Verbindlichkeit. Das ist etwas ganz anderes. Das sind eher die „Langstreckenläufer“ in Ehrenämtern gefragt.

    Ich glaube sicher, dass etliche derer, die spontan zum Bahnhof gefahren sind oder sich sogar als „ehrenamtliche Schleuser“ angeboten haben, irgendwelche dieser Eigenschaften an sich entdecken und vielleicht auch weiter einsetzen werden.

    Davon unabhängig jedoch glaube ich, dass ähnlich wie beim Fall der Mauer später jeder wissen wird, wo er war und was er gedacht hat, als im Sommer 2015 die (erste?) große Flüchtlingswelle kam und sich in Deutschland die Erkenntnis durchsetzte, dass Angst und Abschreckung nicht unsere Antwort sein sollte, weil die Mehrheit der Deutschen das nicht so glaubt und haben will. Das hat seinen eigenen Wert.

    LG
    Cordula (@coma_spinnt)

  18. Medienöffentlichkeit ist aber auch wichtig. Und bei allem, was an braunem Dreck in letzter Zeit hochkommt, braucht unsere Gesellschaft auch dringend positive Signale. Menschen sind überfrachtet von Elendsbildern in der Medienwelt. Und stille und heimliche Hilfe wird nicht in die Wahrnehmung an den Stammtischen der Republik eingehen.

  19. Manchmal frage ich mich, wo die ganze Hilfsbereitschaft plötzlich her kommt. Eine Antwort habe ich nicht. Meine Vermutungen sind teilweise nicht sehr schmeichelhaft. Vielleicht auch deshalb, weil ich bisher nichts unternommen habe, um Flüchtlingen zu helfen.
    Aber das ist nicht der Punkt. Ich denke, im Moment werden viele Hände gebraucht und wenn jemand aus anderen Gründen als aus purer Nächstenliebe mit anpackt, dann ist das auch OK. Es ist doch besser, jemand hilft ein bisschen um dann ein schönes Foto aus der Kleiderkammer auf Instagram posten zu können als wenn die Hilfe ganz fehlt. Schwierig ist es wohl nur, wenn die Hilfe nicht mehr möglich ist, weil sich die Helfer gegenseitig auf die Füße treten.
    Dass aus der Hilfe scheinbar eine Party wird, halte ich eher für gut. Einen Grund habe ich schon auf Twitter genannt: Diese lautstarke Hilfe ist ein wichtiger Gegenpart zu den Hetzern von PEGIDA und Co.
    Ich denke aber auch, dass eine ‚Partystimmung‘ einfach auch eine gute Motivation sein kann um mitzuhelfen. Die Menschen, die hierher kommen, haben schwere Zeiten durchlebt. Das kann man nicht einfach wegfeiern. Aber es ist gut, wenn die Stimmung trotz allem positiv ist.
    In Deutschland wird in diesem Jahr kein Sommermärchen erzählt. Dafür ist das Leid zu groß, dass zu dieser Geschichte geführt hat. Dass aber in diesem Land die neuen Herausforderungen mit einer gewissen ‚Leichtigkeit‘ angenommen werden, stimmt mich eher positiv.
    Auf die Dauer hoffe ich, dass die Politik sich endlich kümmert. Im Augenblick habe ich den Eindruck, dass ein Teil der Bevölkerung für die Flüchtlingshilfe zuständig ist und der Staat für die Grenzzäune. Das, was die Freiwilligen jetzt leisten, würde den Staat viel Geld kosten. Es wird höchste Zeit, dass jemand ehrlich ausrechnet, was eine gute Hilfe kostet und dann auch entsprechende Steuern vorschlägt. Das, was jetzt viele Freiwillige erledigen, muss der Staat in seine Hände nehmen. Ohne Abstriche zu machen. Das wäre ein klares Zeichen in Richtung derer, denen es lieber wäre, wenn mehr Flüchtende auf ihrem Weg ertrinken, verdursten oder verhungern.
    Sowohl die Flüchtlinge als auch die vielen Helfer, die jetzt aktiv sind, haben dieses Land verändert und verändern es noch. Ihnen sollte man ein Denkmal setzen. Mit einem eigenen Feiertag.

  20. ja, doch. werden wir.

    denn wir machen das nicht wegen der fotos und berichte, sondern wegen persönlicher erfahrungen und ganz individuellen begegnungen über die letzten jahre.

    und die neulinge sind jetzt auch aus ihren fernsehsesseln und ihrer timeline herausgekommen und erleben vor ort, was herzen und hände erreichen können.

    ich kan nur für mich und mein engstes umfeld sprechen. lasst uns das beste aus der phase hoher aufmerksamkeit machen.

    herzlich willkommen, neue helferinnen und begrüßer. schön, dass ihr dazugefunden habt. und bringt eure nachbarn mit!

    .~.

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