Schlohweiß

Früher wohnte ich mit einem älteren Herrn im Haus, der immer sehr elegant war. Hemd, Krawatte, Anzug – und bereits schlohweißes Haar, als er tatsächlich noch ein älterer und kein alter Herr war. Ein Herr war er jedoch immer. Er war ausgesprochen höflich, grüßte freundlich und verteilte zu Ostern Schokoladeneier an die Kinder aus der Siedlung. Abends war er häufig unterwegs: Er hatte mehrere Abos für Oper und Theater. In den ersten Jahren fuhr er noch mit einem gepflegten weißen Audi zum Einkaufen. Später stand der Wagen in der Garage; er bewegte ihn nicht mehr. Er war nicht nur ein eleganter und höflicher, sondern auch ein sehr umsichtiger alter Herr. Denn als er diese Entscheidung traf, war er dem „älterer“ schon entwachsen.

Er ging nicht mehr ganz so oft ins Theater und in Konzerte, wenn auch raschen, entschlossenen Schrittes. Erst lag es an seiner kranken Frau. Nachdem sie gestorben war, ging er weniger, weil er selbst nicht mehr ganz so konnte. Außerdem hatte er viel um die Ohren: Schließlich war er im Kirchenvorstand, besuchte Vorträge und traf sich mit Freunden. Seine Theater- und Konzertkarten verschenkte er öfter in der Nachbarschaft, gerne an Familien mit Kindern.

Wir zogen aus der Siedlung fort, aber ich sah den Herrn mitunter auf dem Weg zur U-Bahn. Irgendwann erkannte er mich nicht mehr. Ich hatte die Haare anders und bestimmt konnte er nicht mehr so gut sehen. Das lässt ja nach, wenn man alt wird. Er wurde immer kleiner und sein Rücken ein bisschen rund. Aber die Anzüge saßen korrekt, Haltung und Frisur waren einwandfrei.

Später hörte ich, dass er gestorben war. Eine Nachbarin hatte ihn zum Ende versorgt. Es sei da nicht mehr so gut gegangen, es kam wohl auch ein Pflegedienst. Ganz einfach war das sicher nicht, schließlich wohnte er im zweiten Stock ohne Fahrstuhl. Wahrscheinlich konnte er nicht mehr raus.

Heute sitzt mir in der U-Bahn ein älterer Herr gegenüber. Er hat schlohweißes Haar, ist aber noch nicht alt. Nur fast. Er trägt einen Anzug und eine Krawatte. Und er hat Haltung. Diese bestimmte, edle.

24. Juni 2014 von Britta Freith
Kategorien: Fensterblick, In der U-Bahn | 4 Kommentare

Kommentare (4)

  1. Oh. Sehr anrührend …

    Wollen wir hoffen, dass wir alle so edel altern. 🙂

  2. Was für ein schöner Film. Ein Zeichen, dass manchmal doch etwas unsterblich ist … Danke fürs Teilen der Gedanken, die mich an meine erste Lehrerin und ihre Perlenkette erinnern, sie hatte auch diese Eleganz …

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