Lasst uns alle Eltern werden

Vor einiger Zeit kam ich in eine Flüchtlingsunterkunft und wurde fast von einem fliegenden Mülleimer erschlagen. Es war sehr kalt, der Boden war gefroren, und ein junger Mann, barfuss, in Schlafanzugshose und T-Shirt schleuderte den Metallkorb laut schreiend: „Call the police, call the police!“. Eine größere Menge hatte sich versammelt: Bewohner und Security, aber es war kein Herankommen. So ein großes mögliches Geschoss ist eine beeindruckende Waffe.

Natürlich nahm ich Deckung, ich bin ja nicht lebensmüde. Doch tatsächlich hätte ich den jungen Mann am liebsten in den Arm genommen, denn ich habe seine Augen gesehen. In ihnen wohnten Angst, Einsamkeit, Verzweiflung. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er war allein. Das letzte Mal hatte ich diesen Blick bei einem kleinen Kind gesehen, dass seine Meinung nicht Erwachsenen gegenüber vertreten konnte, sich stattdessen für einen verzweifelten Wutanfall entschied (bei dem einiges zu Bruch ging) und dann von seiner Mutter endlich nach langem Weinen beruhigt werden konnte. Weil manchmal einzig hilft, in den Arm genommen und so lange gewiegt zu werden, bis alles wieder gut ist.

Es waren dann Mitbewohner und Security, die den jungen Mann beruhigten, vielleicht wurde auch die Polizei gerufen. Später erfuhr ich, dass ihm das Handy gestohlen worden war, eins der wichtigsten Besitztümer auf der Flucht. Wie die Geschichte letztlich ausging, weiß ich nicht, auch nicht mehr über den Mann, aber diese Augen …

Ich habe selbst Kinder, nicht viel jünger als er. Manchmal reisen auch sie ins Ausland, zum Glück zum Vergnügen. Doch wenn sie in Not gerieten, wünschte ich mir, dass jemand da wäre. Jemand, zu dem sie gehen können, wenn die seelische Not, die Angst, der Kummer, so groß sind, dass sie nicht mehr wissen, wohin mit sich. Dass sie reden könnten, dass jemand unkompliziert hilft oder sie einfach in den Arm nimmt. Dass Menschlichkeit sie auf ihrem Weg begleitet.

In den vergangenen Monaten haben bei mir zu Hause junge und ältere Männer gesessen, deren Mütter tausende Kilometer entfernt sind. Die Frauen sind vielleicht so alt wie ich, vielleicht älter. Sie steigen nachts aufs Dach und flüstern, damit die Nachbarn nicht hören, dass sie mit ihren geflüchteten Söhnen in einem fernen Land telefonieren. Sie beten für die Fremden, die ihrem Kind helfen. Und sie beten natürlich auch für ihren Sohn, der gerade am anderen Ende des Telefons versucht, nicht vor meinen Augen in Tränen zu zerfließen.

Ich weiß von Männern, die weinen nachts in ihren Stockbetten irgendwo in Deutschland nach ihrer Mutter. Die haben Angst, ihren Vater nie wieder zu sehen. Die zeigen Fotos von Nichten und Neffen, von kleinen Geschwistern, die sie so gern im Arm halten würden. Einige tun auch gar nichts mehr, sie starren einfach Tage in ihr Handy und gehen gerade mal zum Essen. Wären sie hier in Deutschland aufgewachsen, hätten sie jetzt ihr Studium angefangen, würden den Bachelor machen oder die Ausbildung zuende. Nun sitzen sie in einem fremden Land, wissen nicht so recht, was kommt, außer dass sie überleben sollen, und warten: auf das nächste Telefongespräch, die nächste Entscheidung. Dass vielleicht doch etwas Schönes passiert – etwas wirklich Schönes, etwas Persönliches, bei dem genau sie gemeint sind.

Alle, die Kinder haben, Nichten und Neffen, oder die sich auch nur Mühe geben, dieses Alter zu erinnern, wissen doch, wie es mit knapp über 20 ist: Einem steht die Welt offen, man kann alles machen und gleichzeitig auch noch nicht so viel. Viel klappt, aber vieles kann man gar nicht. Und dann hinausgewirbelt in ein fremdes Land, andere Sitten, seltsames Essen. Mit Familienanschluss wie bei einem Schüleraustausch ist das machbar, ganz allein in einer Flüchtlingsunterkunft ist es eine seelische Zumutung.

Dazu kommt das Warten, das ewige Warten: 21 ist der junge Mann, könnte alles tun, sitzt aber zur relativen Tatenlosigkeit verdammt mindestens 6 Monate lang in einem Container. Wenn er sehr viel innere Kraft hat, lernt er vielleicht durchgehend Deutsch. Es gibt solche, bewundernswert. In meinen Augen ist es weder Wunder noch Schande, wenn er die Kraft dazu nicht findet.

Deshalb, finde ich, sind wir alle gefragt. Und wenn wir nur ein bisschen Zeit haben, wir sollten sie diesen jungen Menschen spenden. Versuchen, ihnen irgendwie zuzuhören, und sei es übers Fotoanschauen. Vielleicht ein Tee, vielleicht ein Ausflug. Irgendetwas, aber Kontakt. Gasteltern sein, obwohl uns keine Austauschorganisation darum gebeten hat. Einfach aus unserer persönlichen Verantwortung heraus. Weil jedes Kind verdient hat, dass jemand ihm Halt gibt. Auch, wenn es gerade erwachsen geworden ist.

12. April 2016 von Britta Freith
Kategorien: Ankommen, Flüchtlinge | 3 Kommentare

Kommentare (3)

  1. Danke für den tollen, einfühlsamen Beitrag!
    Ein Bild aus dem echten Leben – ohne mediale Verzerrung und mit Fokus auf die Menschen hinter dem Label „Flüchtender“.

  2. Danke Britta, das kann man nicht besser schreiben ! Nur so geht es, ich habe nur gute Erfahrungen gemacht und habe auch selbst ein gutes Gefühl, den Geflüchteten zu helfen, einfach mal in den Arm nehmen (habe ich schon auf „offener“ Straße gemacht). Er – ein Syrer aus Damaskus) war gerade einige Tage hier im Camp und hatte die Route übers Mittelmeer gerade überstanden. Er war so traurig und dann glänzten seine Augen. Mein Mann nahm ihn mit nach Hause und druckte ihm einige deutsch/englisch/arabische Seiten als erste Hilfe aus. Es gibt so viel zu tun. Danke an alle Helfer !! Das Gute, das man gibt, kehrt ins eigene Herz zurück !! Das sagte schon meine Oma, es stimmt!!

  3. Puh. Britta, ich weine. Danke für diesen wertvollen Artikel, den ganz viele Menschen lesen müssen.

    Liebe Grüße
    Ruth

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