Das Märchen von den zwei Musikern

Es waren einmal zwei Musiker. Sie waren Freunde und es ging ihnen gut. Sie waren angesehen, wurden auf der Straße angesprochen, verteilten Autogrammkarten. Was Prominente eben so tun. Wenn man das Radio andrehte, war die Chance groß, das gerade ein Lied von einem der beiden lief. Jeder wohnte in einem schönen Haus, hatte eine hübsche Frau und drei wunderbare Kinder. Sie waren glücklich.

Eines Tages kamen Männer und sagten, sie sollten keine Musik mehr machen. Musik sei böse. Wer an Gott glaube, dürfe keine Musik machen. Sie würden künftig darauf aufpassen, dass die Musiker still blieben.  Wenn sie nicht still blieben, würden die Männer wiederkommen, und es würde etwas Schlimmes passieren.

Die Musiker wollten nicht einsehen, was ihr Glaube an Gott mit Musik zu tun haben sollte. Sie musizierten weiter und die Menschen hörten sie an. Da kamen die Männer wieder und wurden deutlicher. Wenn die Musiker nicht aufhörten, würden sie eben umgebracht. Vielleicht würden auch ihre Kinder und ihre Frauen umgebracht. Um es ganz klar zu machen, gingen die Männer auch zu allen Verwandten der Musiker, zu den Schwestern und Brüdern, den Eltern, den Cousinen und Cousins. Sie sagten der ganzen Verwandtschaft, dass sie dafür sorgen sollten, dass die Musiker endlich mit der Musik aufhören. Und wenn sie nicht dafür sorgten, würden sie auch umgebracht.

Die Musiker bekamen es mit der Angst. Es war so, dass es immer häufiger Autobomben in dem Land gab. Läden wurden angezündet, verwüstet oder in die Luft gesprengt, weil dort Musik verkauft wurde. Irgendwann waren die Drohungen der Männer so ernst zu nehmen, dass beide Musiker zu ihren Familien sagten: Wir müssen los. Wir können nicht hier bleiben, sonst sterben wir alle. Der Weg, den wir vor uns haben, ist gefährlich, aber es ist so viel gefährlicher hier zu bleiben, dass wir genau so gut gehen können. Dann haben wir wenigstens eine Chance.

Das Land, in dem die Musiker wohnten, war von hohen Bergen umgeben. Wie das in Märchen so ist, konnten sie über die Berge kein Flugzeug nehmen, sondern mussten zu Fuß gehen. Und auch ein Stück in einem kleinen Boot über das Meer fahren. Obwohl sie das Geld für ein Flugticket locker gehabt hätten. Aber in den Ländern, in die sie gern geflogen werden, gab es Regierungschefs, die fanden, zu Fuß gehen sei besser. Vielleicht, weil die Musiker keine Regierungschefs waren und keine Soldaten – die durften nämlich auch mit dem Flugzeug fliegen.

Wie auch immer: Der eine Musiker ging mit seiner Frau und seinen drei Kindern zuerst los. Er bezahlte dafür sehr viel Geld, mehrere tausend Euro pro Person – viel mehr als Flüge gekostet hätten. Unterwegs wurden er und seine Familie geschlagen, er sah andere Menschen sterben, auch Frauen und Kinder. Der Weg durch die Berge war hart und schwer. Es waren feindliche Soldaten in den Bergen. Wenn ein Kind nachts schrie, wurde es manchmal von einem Soldaten erschossen. Aber vielleicht gehört auch das zu einem Märchen dazu.

Der andere Musiker ging ebenfalls mit seiner Frau und den drei Kindern los. Auch er bezahlte viel Geld und nahm einen ähnlichen Weg. Wenn es eine Gelegenheit gab, schrieben sich die beiden Musiker über ihre Smartphones Nachrichten. Sie schickten sich Bilder aus den Bergen, aus Zelten. Sie lachten und winkten auf den Bildern zusammen mir ihren Kindern und Frauen, auch, wenn es ihnen eigentlich gar nicht so gut ging. Aber sie waren ja glücklich, sich gegenseitig zu sehen.

Der erste Musiker erreichte mit seiner Familie endlich ein sicheres Land. Er kam in ein Lager, das hieß Erstaufnahme. Er wohnte dort in einem Zelt mit seiner Familie und anderen und wartete auf seinen Freund. Während er wartete, bekamen seine Kinder sogar von netten Menschen Weihnachtsgeschenke. Der Musiker begann wieder zu komponieren und spielte manchmal sogar auf einem Keyboard, das ihm jemand geschenkt hatte. Er machte Pläne für seine Kinder. Er erzählte seinem Freund davon und wartete.

Der zweite Musiker freute sich trotz aller Strapazen schon auf ein Wiedersehen. Er hatte mit seiner Familie noch  Weg vor sich. Das Meer war noch nicht überquert, eine große Herausforderung. Er wusste das, aber zu Hause war es eben noch gefährlicher.

Was soll ich sagen? Der zweite Musiker ist wieder nach Hause zurückgefahren, als er das Meer überquert hatte. Zwei seiner Kinder und seine Frau sind auf dem Weg ertrunken. Das überlebende Kind hat er mit in sein Heimatland genommen. Er weint nur noch. Er macht keine Musik mehr.

Leider ist dieses Märchen wahr.

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06. Januar 2016 von Britta Freith
Kategorien: Ankommen, Texte | 1 Kommentar

1 Kommentar

  1. Warum gibt es immer noch Idioten auf dieser Welt, die denke, das die Flüchtlinge die zu uns kommen zum Spaß herkommen?
    Sie verlassen Ihre Heimat, riskieren Ihr Leben und das Ihrer Liebsten und hier rennen Menschen rum die sagen es wäre genug geholfen worden. Die Geschichte macht mich traurig und betroffen.

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