Schleudertrauma

Notaufnahme nach Auffahrunfall. Absurd. Komplett absurd. Über mir ein Feuermelder mit meinem Geburtsdatum. 1410/9.

Ich trage eine Halskrause. Die drückt doof. Ich glaube, sie ist nicht nötig. Ich liege. Ich sehe den Rauchmelder, die abgeblätterte Farbe an der Decke, ein Drittel Kopf neben mir. Alt, zur Überwachung. „Warum?!“, brüllt der Arzt. „Den muss man nicht überwachen!“
„Weiß nicht.“, mault die Schwester. Und dann: „Scheiße!“ Weil da was liegt, was da nicht liegen soll. Ob jemand den Scheiß mal wegräumen könnte. Superstimmung.

Das Drittel Gesicht neben mir wird weggeschoben. „Kann mir mal jemand helfen? Hier ist alles verstopft.“ Die Schwester randaliert mit stummer Patientin auf Bett. Die Patientin liegt in dem Bett wie ein Requisit.

„Ich wusste nicht, dass sie da liegt.“ Nebenan im Zimmer eine irritierte Frau. Hinter mir Kotzgeräusche. Husten, kotzen, husten, husten, kotzen. Etwas Stinkendes wird an mir vorbeigeschoben, eine Stinkende. „Wusste jemand, dass sie offene TBC hat?“ Kotz, kotz, röchel, röchel. Ich steife ein. Nicht neben mich schieben, bitte. „Was macht die denn hier, hat uns das jemand gesagt? Ist das unser Bereich?“ Mir egal, Hauptsache, die bleibt schön dahinten. Meine Brust ist eng.

„Sind Sie Frau Fricke?“ Die Ärztin geht mit hängender Brille von Rollbett zu Rollbett. Die Stumme, die nichts mehr sagen kann, ist dann wohl Frau Fricke. Alle anderen sind es ja nicht. Mein Rücken drückt.

„Was macht die Wirbelsäule denn da?“ Bin ich die Wirbelsäule? Ich habe mich hingesetzt, muss schreiben.
„Ach, auch egal.“
Falls ich die Wirbelsäule bin, kommt es auf mich entweder nicht so an, oder ich bin wegen der Halskrause sicher.

„Schreiben Sie jetzt ein Buch über uns?“ Ich lache.
„Das hat schon jemand vorher getan, sie sind zu spät!“ Die offene TBC kotzhustet.
„Herrjeh, können wir ihr mal einen Mundschutz ummachen?“
Superidee.
„Ich kann nicht alles gleichzeitig!“ Die Pflegerin schreit entnervt. Hat lange keiner mehr ‚Scheiße‘ gesagt.

Mein Mückenstich juckt. Die Internisten haben mehr zu tun als die Chirurgen, darum muss ich wohl nur eine Stunde warten. Ich soll an der Halswirbelsäule geröntgt werden. „Ich war zwei Stunden im Schockraum, ich krieg hier nix mit.“
Beate macht was. Wenn sie zurück ist.
Dummer Spruch, weil Beate noch nicht zurück ist.
Beatus, Beata: heißt das nicht ‚die Schöne‘? Oder ‚die Milde‘? Vergessen. (Später nachgeguckt: ‚glücklich, reich, begütert‘ heißt es.)

Ich war erstaunlich ruhig bei dem Unfall. O.k., ich habe angefangen zu weinen, das ist bei so einem Schreck wohl normal. Aber ich bin sitzengeblieben. Hat ja keinen Sinn, wenn ich draußen zusammenrausche.
Espenlaub. Schon mal gesehen? Das zittert hübsch silbrig im Wind. Ich beginne zu packen. Es kommen Leute, nette Leute. Der Paketbote, hinter dessen Auto ich anhielt, weil er links abbiegen wollte. Der Unfallfahrer, der mit gefühlt 50 in mich hineingedonnert ist. Die Passantin, der Passant. Auftritte, wie in einem Theaterstück.

Die Warnblinkanlage geht nicht, der Wagen springt nicht an. Ich bitte, 110 und 112 anzurufen. Wird gemacht. Sie kommen öfter, reden mit mir. Ich sage, wo das Warndreieck ist. Ich öffne den Kofferraum mit einem Klick auf den Schlüssel. Später werde ich feststellen, dass sie den Kofferraum gar nicht geöffnet haben können, denn er ist komplett verzogen und verklemmt. Aber das Warndreieck finde ich aufgestellt auf dem Rücksitz. Rätselhaft.

Ich packe weiter ein. Die Plastikblume, die ich mal auf dem Dom geschossen habe. Das Plüschnilpferd. Ich habe das Plüschnilpferd gerettet, aber den selbstgebastelten Lederschlüsselanhänger nicht. Hoffentlich bekomme ich ihn wieder.

Die Wagentür wird geöffnet. Der Sanitäter fragt, ich antworte. Alle sind sehr empört, dass ich ohne Papiere unterwegs bin. Ich hatte mein Portemonnaie nicht gefunden und musste schnell auf einen Termin. Da bin ich ohne gefahren. Darf ich das jetzt sagen, oder wird das gegen mich verwendet? Ach ja, ich bin ja nicht schuld an dem Unfall, ich stand ja.

Auf dem Boden liegen Autoteile. Knirschend und hupend fahren andere darüber. Hallo, hier steht ein Krankenwagen mit Blaulicht, hier stehen Unfallautos und ihr hupt? Da, ein VW-Schild. Wieso denn VW? Mit welchem Wagen bin ich denn losgefahren? Ich fahre doch gar keinen VW? Blick auf die Mittelkonsole. Blick aufs Lenkrad. Nee, kein VW.
Ein Glück, ich war nicht mit meinem Wagen unterwegs. Oh, ich war nicht mit meinem Wagen unterwegs! Aber ich bin ja nicht schuld. Dann ist das mit dem Schaden ja nicht so schlimm. Glaube ich. Vielleicht mache ich auch alles falsch.

Sie legen mir eine Halskrause an, zur Sicherheit. „Mach schön eng,“ sagt der Sanitäter, der sich auf die Rückbank gequetscht hat. Ich habe einen sehr schlanken Hals. Kann man nachstellen, die Krause. Warum eigentlich Krause? Im Krankenhaus behalten sie mich und die Krause da. „Wir haben davon noch ein paar im Wagen“, versichert der Sanitäter. Scherz, Scherz. Gibt es einen hamburgweiten Hilfsmittelrücklauf?

Mehrfach wird auf dem Gang eine alte, gebrechliche Frau an mir vorbeigefahren. Ihr linkes Bein ist nackt, sie wurde wohl geröntgt. Wenn man sie nicht herumfährt, liegt sie auf ihrem Bett am Rand des Krankenhausflurs, lamentiert und stöhnt Unverständliches. Die Menschen hier sollten nicht so allein sein. Es wäre besser, wenn es Begleiter gäbe, die mit ihnen sprechen.
Längste Stunde, allerlängste.
Ich lese meine Krankenakte. Dringlichkeit MTS: gelb/3. Rot/1 ist das Schlimmste, blau und 5 ein glatter Witz.

Um 17 Uhr bin ich gekommen. Jetzt ist es 18:15. Um 16:30 war der Unfall. Um 17:10 sollte ich bei meinem Termin sein. Mein Mann ist informiert. Der Termin ist informiert. Der Wagen wurde irgendwohin geschleppt. Die Straße musste frei werden, daher Blaulicht. Der Sanitäter voll Mitgefühl, er hatte Weihnachten einen Unfall, auf der Autobahn. Er fuhr 100, ein anderer rammte ihn mit 150. Der Wagen des Sanitäters drehte sich, er stand mit der Schnauze zur Leitplanke und BÄNG! knallte noch jemand mit 80 in die Seite. „Und wissen Sie was? Nur Oberschenkelprellung, sonst nichts.“ Wir reden übers Glück.

Vor Krankenhausnotaufnahmen sitzen immer die Beinamputierten in ihren Rollstühlen und rauchen. Zeigt das eigentlich jemand in den Arztserien im Fernsehen? Muss unbedingt rein.

Ob ich auf Toilette gehen darf? „Sie sitzen aber hoch?“ Stimmt, mein Rollwagen ist ganz oben, ich hocke schreibend drauf. Ob ich schon dran wäre, wenn ich noch liegen würde? Ich frage lieber nach der Toilette, sonst denken die später noch, ich sei einfach weggelaufen.

Erstmals ein Spiegel. Oh, ich sehe nicht mehr so gepflegt aus wie vorhin. Meine Haare hängen herunter und diese alberne Wirbelsäulenstütze. Die Sanitäter hätten ja wenigstens den Verschlusszipfel rankletten können. Die Kloschüssel sieht nicht aus wie eine Freundin. Die offene TBC, war die hier? Ob man auch am Po Sterilium…?

Mein Untersuchungsraum hat die Nummer 9. Ein Kind weint. Die Pflegerin entschuldigt sich, als sie noch einmal hineinkommt: „Ich bin gleich wieder weg.“ Offenbar habe ich mir einen höheren Status erarbeitet, eine Art Privateigentum. Vom Gang ins Untersuchungszimmer. Mir wird langweilig.

18:50. Die wimmernde Oma wird endlich angesprochen. Ob ihr das Knie so weh tue? Dabei sei damit wohl gar nichts. Na, mal sehen. Tragenwechsel, sie wird weggebracht. Meine Rückenmuskeln schmerzen müde. In Zimmer 8 gegenüber hampelt ein zehnjähriges Mädchen in der Tür. Ich hample zurück, sie verschwindet. Bei 35 Jahren Altersabstand enststeht keine Hampelsolidarität. Im Papierkorb entdecke ich eine weggeworfene Halskrause. Ich könnte meine dazupacken und gehen.

Röchelndes Husten um die Ecke. Ein Pfleger zieht sich einen Mundschutz über, läuft in die Richtung, blafft: „Könnense mal die Hand vor den Mund halten? Das wäre ganz nett!“ Nebenan schreit das Knie mit leiser Stimme aua, aua. Ja, man kann mit leiser Stimme schreien, sogar ganz ohne. Intubierte Babys tun das, wenn der Schlauch durch die Nase führt.

Der Arzt. Abtasten, röntgen, Gespräch. Ich soll kein Schleudertrauma googeln, alles Quatsch. Allein in der Halbwirbelsäule habe ich acht Gelenke und damit acht Zerrungen. Und was machen Fußballspieler, wenn sie das im Knöchel haben? Eis draufpacken. Also nur nicht heiß duschen, wenn ich mich auch morgen noch bewegen können will. Brief an niedergelassene Ärztin, ab.

Endlich nach Hause. Das Krankenhaus ist abgelegen, ich nehme einen Bus. Der bringt mich zu einem anderen Bus, der wieder zur U-Bahn. Weit mehr als eine nicht so lustige Stunde liegt vor mir. Aber wenigstens kein Krankenhaus mehr, darum warte ich nicht, bis ich abgeholt werde, sondern steige ein.

„Papa, wann sind wir zu Hause?“
„In 10 Minuten.“
„Wann??“
„In 10 Minuten!“
„Aber wann ist das denn?“
„Du meinst, wie spät es dann ist?“
„Ja, wie spät?“
„Viertel vor Neun.“
„Viertel vor… Das ist aber spät.“
„Ja.“
„Das sag ich Mama!“
„Nein, das sagst du nicht Mama, das bleibt unser Geheimnis.“
„Du kriegst großen Ärger.“
„Unser Geheimnis. Sonst fahren wir nicht wieder zusammen los.“
„Wie spät noch mal?“
„Siehst du dann ja.“
„Nein sag. Viertel vor… oder Neun? Du musst es mir sagen. Ich sag es auch nicht Mama.“
„Ich weiß nicht genau.“
„Du weißt es wohl genau. Sag schon.“
„Das siehst du dann ja.“
„Ich muss es wissen.“
„Ist vielleicht ganz gut, wenn du das nicht so genau weißt.“
„Ich kann nicht an mich halten, ich muss es dann Mama erzählen. Ich kann einfach nicht anders.“

Der Vater lächelt nicht zurück, obwohl ich vor Lachen fast platze.

29. Mai 2015 von Britta Freith
Kategorien: Stilkritik, Texte | 7 Kommentare

Kommentare (7)

  1. Als Gruselgeschichte echt toll. Notiert: Notaufnahme meiden, wenn immer möglich.

    Und ich würde auf alle Fälle beim Osteopathen vorbeischauen. Quasi ein Must beim Schleudertrauma.

  2. Riesen-Mist, so einer. Liest sich toll, Britta. Der Kopf ist heil geblieben :). Gute Besserung, erhol Dich :).

  3. Was für ein Albtraumtag. Gute Besserung und liebe Grüße

    Eva

  4. Gute Besserung! Und Danke für den Einblick. Schreiben hilft ja immer wieder, so manche Situation gut zu überleben. Besonders, wie sich durch die plötzliche Tempoveränderung auch der Blick verändert in den Momenten kurz nach dem Aufprall, das kennen alle, prägnant beschrieben: „… Die Passantin, der Passant. Auftritte, wie in einem Theaterstück. …“

  5. Oh je. Gute Besserung!

  6. OMG! Gerade erst gesehen. Aber zum Glück hat Du wohl alles gut hinter Dich gebracht.

    Wie jemand hier schon schrieb:
    Alpttraumartige Szenen in Deinem Text – man lebt und leidet mit. Klasse gemacht!

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